#2

Beitrag vom 10.08.2019
Bernd Volmer & Olli Meier
Schriftgestalter, Type Engineers

Schrift & Natur

OLLI  Was mir dazu gleich einfällt ist, dass ich einmal im Wald unterwegs war. Da gibt es diverse Leute, die etwas in einen Baum schnitzen, vor allem Herzen mit Namen, oder »Ich bin verliebt plus/minus …«. Minus selten, aber Plus. Das Interessante bei Schrift, die in einem Baum geritzt ist, ist, dass man erkennen kann, wie sich die Schrift verändert. Das heißt, wenn der Baum wächst und die Rinde sich vergrößert, gibt es plötzlich Kontraste in den Schriften, dann wird ein Stamm breiter und die Horizontale dünner, weil der Stamm nach außen hin breiter wird, aber nicht nach oben hin. Ich dachte, dass ich aus dieser Idee einmal eine Schrift basteln könnte. Was eigentlich völlig unterschiedlich ist, wie die Natur die Schrift beeinflussen kann und wie sie Kontraste schafft, ohne dass es vorher impliziert wurde.

Schrift & Blödsinn

BERND  Ja, Blödsinn und Schrift find ich super. Nicht jedes Schriftprojekt muss sinnvoll sein. Man kann auch mit dem Experiment starten. Das Experiment kann ins Nichts führen. Trotzdem ist es wichtig, dass man experimentiert. Einfach um auszuprobieren und sein visuelles Repertoire zu bereichern. Blödsinn-Schrift find ich gut — scheint auch grad recht trendy zu sein.

Wenn ich die Comic Sans als Rockstar-Schrift gemacht hätte, wäre ich äußerst stolz darauf.

Schrift & Rockstar

OLLI  Damit kann ich tatsächlich nicht so viel anfangen. Ich bin der Elektromusik verschrieben. Generell Stars in der Schrift. Dauerbrenner – Schriften, die immer wieder kommen, aber bei denen keiner weiß, warum sie gut gefunden werden und warum sie immer wieder gekauft werden. Ich muss da an die Helvetica und Meta denken. Oder die Comic Sans. Vielleicht können wir über die Comic Sans sprechen. Die empfinde ich nämlich eigentlich als Rockstar. Sie war anders zu ihrer Zeit, aber deshalb auch irgendwie besonders, weil sie ein neuer Schritt war. Sie sah anders aus als die Systemschriften und wurde dadurch populär. Wenn man diese Systemschriften durchscrollt und die Verdana oder Times New Roman hat, und man wollte aber schön seine Einladungskarte von seinem zwölften Geburtstag machen, dann hat man die Comic Sans dafür benutzt.

Ein Teil des Brandings von Olli und Bernd für die TYPO Labs

Ganz ehrlich, alle schimpfen – gerade Designer schimpfen über sie. Aber wenn ich die Comic Sans als Rockstar-Schrift gemacht hätte, wäre ich äußerst stolz darauf. Weil sie zu ihrer Zeit etwas Besonderes war. Jeder kennt sie. Sie wird für alles benutzt. In ihrer Anwendung mag sie gut oder schlecht sein. Hätte ich sie aber gestaltet, wäre ich sehr stolz drauf.

Schrift & Toleranz

BERND  Es gibt ein Toleranz-Level bis zu dem man eine Schrift lesen kann. Bei der Schriftgestaltung hat man es immer mit Konventionen zu tun. Wenn man zu viele dieser Konventionen bricht, ist die Toleranz des Lesers nicht mehr vorhanden, das Ganze lesen zu wollen. Wobei sich das Maß an Toleranz zwischen Display-Schriften und Textschriften unterscheidet. Einer Schrift, die nur für wenige Wörter auf einem Poster verwendet wird, verzeiht man eher ein paar Verrücktheiten als einer Schrift, die in 8pt gesetzt wird.

Schrift & Trend

OLLI  Trends in der Schrift kommen immer wieder. Ich glaube, die kann man auch nicht wirklich planen. Was hatten wir für Trends in den letzten Jahren? Jetzt zuletzt natürlich geometrische Schriften. Was aber schonmal populärer war sind Brush-Schriften. Also das Handgemachte. Ich fand auch, dass mal eine ganze Zeit lang Slab-Serif-Schriften sehr populär waren. Ich glaube, das kommt immer wieder. Das ist vielleicht wie in der Mode: Irgendwann ist man einer Richtung überdrüssig und kann es nicht mehr sehen. Und dann kommt etwas Neues, was auch schon einmal existiert hat, aber wieder neu gezeichnet oder anders gemacht wird. Vielleicht mit leichten Veränderungen, die auch in der Anwendung anders dargestellt werden. So können sie in anderen Kontexten wieder neu aussehen. Was der nächste Trend wird? Keine Ahnung.

Es gibt so viel Informationsaustausch, dass es unmöglich ist, klar zu sagen, was die Identität einer Schrift ist.

Schrift & Politik

OLLI  Politische Schrift. Tatsächlich ist das die einzige Schrift, die ich jemals gemacht habe. (lacht) Die Moontype. Das ist eine politische Schrift. Sie wurde geboren aus einem Bedürfnis: Das war ein, zwei Wochen, nachdem der Brexit verkündet worden war, was mich sehr stark berührte. Und ich fragte mich, wie ich damit umgehen könnte – also wie ich mich dazu äußern könnte. Ich bin keine Person, die viel auf Demos geht, oder sich anders politisch engagiert. Schrift ist die Form, wie ich mich äußern kann, wie ich kommunizieren kann, und wie ich mich politisch visualisieren kann. Ich habe das mit einer Schrift gemacht – die bestimmte Wörter ersetzt. Beispielsweise wird Hass oder Krieg durch Liebe und Frieden ersetzt. Das ist mein politisches Statement. Die Schrift ist zwar nicht praktikabel, weil sie so nicht benutzbar ist – aber sie hat ein Statement. Bernd: Jede politische Botschaft braucht Schrift. Sonst kann man sie ja nicht kommunizieren.

Schrift & Heimat

BERND  Ich komm aus dem Emsland, da ist nicht so viel. Ich weiß nicht, ob da jemand Schrift in Torf macht. Aber es gibt da viele Holz-Gravuren. Die sind nicht unbedingt schön. Da gab es damals sicher nicht die qualifiziertesten Leute für Schrift. Meine Heimat assoziiere ich generell nicht mit guter Schrift. Das ist oft eher frustrierend, wenn man da hinkommt und sich denkt »da müsste mal jemand was machen«.
OLLI  Wir könnten bei Heimat auch noch ein bisschen größer werden. Also nicht bezogen auf die ganz persönliche Heimat und die Region, sondern Deutschland. Da könnten wir natürlich auf die Fraktur eingehen und welchen Charakter sie hat, aber das wäre zu groß gefasst, da habe ich auch keine Lust drüber zu sprechen.

Ollis Sammlung verzerrter Buchstaben – mehr davon → hier

BERND  Schrift, Heimat und Historie im Kontext ist interessant. Denn wenn man sich Schriftmuster bis in die 40er Jahre anguckt, kann man genau sagen, wo etwas herkommt. Es gibt einen französischen Stil, es gibt einen deutschen Stil, einen englischen Stil. Man kann das ganz gut einordnen. Wenn man sich das heute anguckt, ist es unmöglich zu sagen, wo eine Schrift herkommt. Das ist einfach durch Globalisierung und das Internet entstanden. Es gibt so viel Informationsaustausch, dass es unmöglich ist, klar zu sagen, was die Identität einer Schrift ist. Es geht mittlerweile mehr um die Schriftklassifikation als um die Herkunft.

Große Buchstaben helfen, ein besseres Gefühl für Formen und Kurven zu bekommen.

Schrift & Graffiti

BERND  Meine dritte Schrift war tatsächlich eine Graffitischrift. Da ging es nicht groß um Lesbarkeit oder Typografie. Damals hatte ich mich viel mit Graffiti beschäftigt und ich hatte nicht viel über die Anwendung der Schrift nachgedacht. Ich wollte eine Schrift machen, die aufgebaut ist wie ein Graffiti, also gibt es eine Fill-In-Ebene, eine Outline-Ebene und eine High-Light-Ebene. Zusätzlich gab es noch eine Background-Ebene, in der man verschiedene Zugmodelle tippen konnte. Die Schrift hieß Panel. Die Buchstaben waren so platziert, dass sie unten angeschnitten waren und bündig bis zur Unterkante des Zuges gingen — eben wie ein Graffiti-Panel auf einem Zug.
Ich glaube, sehr viele Schriftgestalter haben einen Graffiti-Hintergrund. Inwieweit sich das heute noch bei der Schriftgestaltung äußert? Bei Graffiti geht es um verschiedenste Aspekte rund um Form und Proportion. Du kannst bei Graffiti viel einfacher mit Effekten Unzulänglichkeiten kaschieren, was in der Schriftgestaltung schwieriger ist. Du hast viel reduziertere Formen in der Schriftgestaltung. Du hast nur Form und Gegenform, du hast viel weniger Mittel und meistens hat man es bei der Schriftgestaltung auch nicht so eilig. Da bleibt mehr Zeit für den Feinschliff und für Details.

Bernds neustes Variable-Font-Projekt »Seraphs«

Schrift & Lernen

OLLI  Vielleicht kann ich hier den Graffitibezug nochmal einbringen. Als ich Typografie-Grundlagen unterrichtet habe fand ich es immer interessant, Studierende dazuhaben, die erstmal ein bisschen verhalten gegenüber Graffiti waren, später aber gemerkt haben, dass ich dem Ganzen positiv gegenüberstehe. Große Buchstaben helfen, ein besseres Gefühl für Formen und Kurven zu bekommen.

Schrift & Frauen

OLLI  Ganz wichtiges Thema. Wir brauchen mehr Frauen. Ich sehe eine positive Entwicklung – immer mehr Frauen kommen nach vorne auf die Bühne, immer mehr Frauen werden gefördert und motiviert sich zu engagieren. Ich denke, es wird irgendwann normal sein, ein gleichen Verhältnis von Männern und Frauen zu haben. Vielleicht schaffen wir es sogar irgendwann nicht mehr zwischen Geschlechtern zu unterscheiden. Auch wenn wir noch nicht da sind, habe ich das Gefühl, dass es besser wird – sei es in der Schriftgestaltung, im Font-Engineering oder im Coding. Damit wir das aber schaffen, dürfen wir Männer uns auch einfach mal zurücknehmen.

Die TYPO Labs Konferenz Identity funktioniert animiert und gedruckt

Schrift & Revolution

BERND  Es ist interessant, darüber nachzudenken, dass das, was heute Kinder in der Schule als normal wahrnehmen, Groteskschriften sind. Die haben diesen Namen, weil sie mal grotesk, also ungewöhnlich waren. In der Schriftgeschichte gab es noch weitere große Brüche mit Konventionen oder gar komplett neue Schriftsysteme wie das Koreanische zum Beispiel — das könnte man schon als Schriftrevolution bezeichnen. Da wurde mit einem mal eine komplett neue Schrift eingeführt im 15. Jahrhundert. Ich bin gespannt, wie die nächste große Schriftrevolution aussehen könnte.

Schrift & Religion

BERND  Ich war am Wochenende bei einem Vortrag von Underware in Rotterdam. Die haben ihren Vortrag als Messe gehalten und haben am Ende die zehn Gebote der Schrift ausgeteilt. Am Ende gab es anstelle der Hostie ein kleines Büchlein mit den Ten Commandments of Type. Super gut. Schriftgestaltung hat ja auch fast was religiöses — manche Schriftprojekte ziehen sich über Jahre. Da ist es wichtig nicht den Glauben an die Schrift zu verlieren.
OLLI  Geh mal vom Latin-Bereich weg. Wenn wir dann im arabischen Bereich und im Kalligrafischen sind, wir das oft im muslimischen Kontext und einem ganz anderen auch religiösen Kontext gesehen. Vor allem, dass eine Schrift tatsächlich auch heilig sein kann und dass sie nicht anders oder gar neu interpretiert werden darf. Das kennen wir vielleicht nicht aus unserer Region, aber in anderen Regionen ist das durchaus so. Ich bin aber der Meinung, dass das ganz klar getrennt werden muss. Eine Schrift kann nicht heilig sein. Sie ist Informationsträger und sollte Inhalte vermitteln. Sie ist aus meiner Sicht definitiv keiner Religion zugeschrieben.

Schrift & Wut

BERND  Da fällt mir spontan Graffiti ein. Da wird Schrift mit Zerstörung verbunden.
OLLI  Wut ist ja auch eine Emotion, ein Ausdruck, wenn du beim Graffiti bist, kann es durchaus aus Wut entstanden sein.

Schrift & Wunder

BERND  Variable Colour Fonts!
OLLI  Hui. Wunder? Magie? Zauberei? Da könnte man sicherlich über OpenType-Features sprechen. Welche Wunder werden in der Zukunft noch geschehen? Werden wir Schrift jemals neu denken, neu zeichnen? Werden wir Schrift dreidimensional denken? Ich bin auf jeden Fall gespannt, was passieren wird. Variable Fonts sind, denke ich, nur ein kleiner Schritt.

Social Media ist auf jeden Fall ein Grund, warum Variable Fonts so stark in den Vordergrund treten.

Schrift & Männer

BERND  Bei Curtis, meinem type]media-Projekt war es mir wichtig, dass die Schrift Charakter hat und ich wollte, dass die Schrift modern und nicht zu weich aussieht. Ich wollte eine kalligrafische Schrift gestalten, die ernst ist. Also eine, die nicht verspielt ist. Man assoziiert ja oft menschliche Attribute mit Schrift-Charakteristiken. Es war mir schon wichtig, dass Curtis männliche Attribute bekommt — daher ja auch der Name.

Schrift & Social Media

OLLI  Vielleicht können wir da über die Typolabs-Schrift sprechen. Sie war konzipiert für die verschiedensten Formate, Höhen und Breiten. Social Media ist auf jeden Fall ein Grund, warum Variable Fonts so stark in den Vordergrund treten. Sie sind nicht mehr statisch und erfüllen die ganzen verschiedenen Anforderungen, die mit den Formaten auf Social Media entstehen, da alles flexibel gestaltet ist.
BERND  Ich glaube, Social Media und Schrift sind eine ganz schlechte Kombination. Das kann ich mit dem Beispiel MySpace oder mit Hyves belegen: Hyves war die niederländischen Alternative zu Facebook und man konnte Schriften und Farben anpassen, was dazu geführt hat, dass 90 Prozent der Seiten einfach schlimm aussahen. Das liegt einfach daran, dass nicht jeder ein gutes Gespür für Ästhetik hat.

Schrift & Verantwortung

BERND  Seiner Verantwortung ist man sich bei der Gestaltung oft sicherlich gar nicht bewusst, weil man einfach drauflosarbeitet. Vielleicht hat man ein grobes Konzept, wo man hinwill mit der Schrift, das ist aber sehr subjektiv am Anfang. Interessant wird es dann, wenn man schaut, wie die Schrift eingesetzt wird. Wie sie aber am Ende vom Benutzer gebraucht wird ist wieder eine ganz andere Geschichte. Man hat dem Benutzer gegenüber auf jeden Fall eine Verantwortung, dass die Zeichen drin sind, die der Benutzer braucht und dass die Schrift so funktioniert wie erwartet.
OLLI  Das halte ich tatsächlich für einen guten Punkt: Welche Verantwortung hat die Person, die die Schrift gestaltet und entwickelt? Sie muss so benutzbar sein, wie sie zu benutzen sein sollte. Das ist auch ein wenig mein Thema, sicherlich: Qualitätssicherung. Man testet die Schrift entsprechend, sodass sie auch wirklich auf den verschiedensten Systemen funktioniert. Die Verantwortung kann man dabei nicht von sich geben.

Schrift & Schönheit

BERND  Ich habe in Holland Schrift studiert. Holländische Schriften haben ja bekanntermaßen eine gewisse Reputation und es gibt eine gewisse Ästhetik, die man mit holländischen Schriften assoziiert. Weich, aber dennoch definiert, nicht schwammig. Schön fließend. Das ist für mich, was Schönheit in Schrift ausmacht: Dass die Schrift schön fließt, klar definiert ist und die Buchstaben schöne Formen haben. 
Olli: Jeder interpretiert Schönheit aber auch anders. Das ist für mich besonders eine Sache von Erfahrung. Wie viele Schriften hat die Person bereits gesehen? Welche verwendet sie am häufigsten? Das ist aus meiner Sicht sehr individuell zu betrachten. Auch ist das abhängig davon, in welcher Gesellschaft wir leben. Lesen wir viele gedruckte, alte Bücher und sind das Schriftbild gewohnt, haben wir ein anderes Gefühl von Schriftschönheit als wenn wir alles nur digital am Smartphone lesen. Daher eine sehr individuelle Geschichte.